Cinderella auf Sylt - Roman

von: Emma Bieling

Aufbau Verlag, 2012

ISBN: 9783841203915 , 240 Seiten

Format: ePUB, OL

Kopierschutz: frei

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Preis: 7,99 EUR

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Cinderella auf Sylt - Roman


 

Sylt, ich komme!


»Sehr geehrte Zug-Gäste, in wenigen Minuten erreichen wir den Bahnhof von Westerland.« Cinderella blickte aus dem Fenster des Zugabteils, aber sie konnte einfach nichts erkennen. Weder das Meer noch die endlos langen Sandstrände. Draußen war es finster, und auch der Mond schien sich an diesem Sommertag frei genommen zu haben. Nur ab und zu huschten ein paar Lichter vorbei, die kurz darauf im Dunkel der Nacht wieder verschwanden.

Tommy schlief seelenruhig und fest. Sein Kopf lag auf ihren Schoß gebettet, und in seinen Armen hielt er Lumpi, seinen Plüschhasen. Behutsam zog Cinderella das liebgewonnene Stofftier aus dem Klammergriff ihres Sohnes. Lumpi sollte beim Aussteigen keinesfalls verloren gehen. Nicht jetzt, nachdem sie ihn unter Einsatz ihrer ganzen Kräfte aus dem Abfluss ihres Toilettenbeckens geborgen hatte. Cinderella musste bei diesem Gedanken schmunzeln. Tommy hatte doch tatsächlich versucht, das hilflose Häschen hinunterzuspülen. Und das nur, weil ihre Stiefschwester ihm erzählt hatte, dass Jungen, die mit Kuscheltieren spielen, ewig klein bleiben und später als Gartenzwerge arbeiten müssen. Dabei war das noch eine von Sandras harmlosesten Gemeinheiten.

Cinderella betrachtete Lumpi genauer. Sie hatte ihn kurz vor Reiseantritt einer Intensiv-Wäsche unterzogen, um etwaige Reste seines unfreiwilligen Tauchganges zu beseitigen. Jetzt strahlte er wieder im Taubenblau und roch frisch wie der Frühling. Nur seine Ohren schienen etwas kürzer geworden zu sein. Lumpi war also gewissermaßen zum Kurzohrhasen mutiert und ebenso reif für die Insel wie sie.

Der Zug wurde langsamer, und in die Abteile kehrte zunehmend Leben ein. Cinderella rüttelte Tommy wach. »He, kleine Schlafmütze, aufwachen.« Er streckte sich und gähnte. »Mama, sind wir auf der Insel?«

Sie nickte, ohne aufzublicken, konzentriert darauf, Lumpi in eine der Reisetaschen zu quetschen. Tommy, der fast die ganze Fahrt verschlafen hatte, wippte von einem Bein aufs andere.

»Mama, ich muss mal.«

»Was, jetzt?«

»Ja, ganz doll.«

Cinderella holte tief Luft und ignorierte die Information über das gerade sehr unpassende Bedürfnis ihres Sohnes. Der Zug ruckte unterdessen und blieb stehen. »Werte Gäste, wir haben soeben den Bahnhof von Westerland erreicht. Wir hoffen, dass sie eine angenehme Fahrt hatten, und wünschen ihnen einen schönen Aufenthalt vor Ort.«

»Mama, ich muss wirklich ganz doll«, quengelte er weiter.

Cinderella warf ihm einen bösen Blick zu. »Später, Tommy.«

»Ich will aber jetzt aufs Klo.«

Dabei stampfte er mit seinem Fuß auf. Cinderella griff Tommy am Arm und zog ihn zu sich heran. Aber noch ehe sie ihm einen Vortrag über »Ich-will-Sätze« halten konnte, brachte sich eine der älteren Damen ein, die ihr seit Stunden stumm gegenübersaßen.

»Da vorne, junge Frau, da sind die Toiletten«, sagte sie und zeigte mit ihrem Gehstock in Richtung Örtlichkeit …

Das fehlt mir gerade noch, dachte Cinderella.

Wahrscheinlich würde Tommy ewig brauchen, der Zug weiterfahren und sie letztendlich irgendwo im Nirgendwo landen. Nein! Das wollte sie nicht riskieren. Nicht mit einhundertsiebenundachtzig Euro im Gepäck und den geographischen Kenntnissen eines Erdkunde-Muffels.

»Vielen Dank, aber bis zur Bahnhofstoilette hält er noch durch.«

Cinderella nahm ihr Gepäck, verabschiedete sich und drückte Tommy aus dem Abteil hinaus. Die älteren Damen folgten mit einem Kopfschütteln.

Wahrscheinlich waren sie früher bessere Mütter gewesen. Aber sie hatten bestimmt auch keinen Mann wie Mike – einen singenden Berufsträumer, der sich im Nebenzimmer mit ihrer jüngeren Schwester vergnügte. Als wenn Cinderella das nie gemerkt hätte.

 

Mit vier übergroßen Reisetaschen und einem bockigen Fünfjährigen im Schlepp drängte sie sich zu einer der Zugtüren. Gleich würde sie das erste Mal auf den Boden einer Insel treten – ihrer Trauminsel. Cinderella schob Tommy vorneweg die Tür hinaus. Sie konnte es kaum erwarten. Sylt, ich komme!

Voller Andacht trat sie auf den Bahnsteig und wurde vom Sturm erfasst. Erschrocken ließ sie die Taschen fallen, um ihren Sohn festzuhalten. Was zur Folge hatte, dass der Wind unter ihr Kleid fuhr und es in die Höhe riss. Wie ein bunter Fallschirm flatterte es vor ihrem Gesicht hin und her. Cinderella hatte keine Wahl. Tommy oder die Zur-Schaustellung ihrer Unterwäsche. Sie umklammerte schützend ihr Kind und blickte sich um. Irgendwo musste es doch eine windgeschützte Ecke geben? Einige Meter entfernt stand eine Bank, direkt neben einem Zeitungskiosk. Sturmsicher genug, um auszuruhen und das Kleid mit einem einfachen Trick sylttauglich zu machen.

Nachdem Tommy etliche Liter Limonade auf dem Bahnhofsklo gelassen hatte, half er seiner Mutter, die Reisetaschen auf einen der herumstehenden Gepäckwagen zu stapeln.

Fröhlich gestimmt, setzten sich beide Richtung Westerland in Bewegung. Aber eines der Gepäckwagenräder blockierte, ein anderes wirbelte im Kreis herum.

Tommy zerrte mit ganzer Kraft am Wagen, worauf der in Fahrt kam und geradewegs gegen einen Taxifahrer rollte, der an sein Auto gelehnt dastand.

»Passen Sie doch auf!«

»Verzeihen Sie, aber dieser Wagen macht, was er will«, entschuldigte sich Cinderella.

Der Mann grinste und schnippte den Rest seiner Zigarette weg. »Na, so ein blödes Ding. Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«

»Sie könnten mir sagen, wie weit es bis zum ersten Hotel ist?«

»Das Sylter-Dream?«

»Weiß nicht – einfach das erste.«

»Ist gleich da vorne rechts. Aber wenn Sie nicht reserviert haben, besteht null Chance. Alles ausgebucht, selbst in Tinnum und Kampen.«

Cinderella seufzte auf. Wie hatte sie nur denken können, dass ausgerechnet Sylt auf sie gewartet hatte! Sie – das Aschenbrödel der Neuzeit.

Ach, wenn doch Oma Trautchen noch leben würde.

Gewiss wäre ihr diese Dummheit dann erspart geblieben. Einfach wegzurennen vor den heimischen Problemen, um auf einer Insel das Glück zu suchen. Wie albern und unreif, hätte ihre Großmutter sie geschimpft. Ihr hatte sie auch diesen scheußlichen Namen zu verdanken, den Cinderella zu gerne gegen einen üblichen Vornamen getauscht hätte. Aber sie musste ihrer Oma am Sterbebett versprechen, dass sie immer Cinderella heißen würde. Und nun stand sie inmitten ihrer neuen Wahlheimat, und das Pech klebte an ihr wie dieser Name.

Der Taxifahrer steckte eine neue Zigarette an und kratzte sich seinen Dreitagebart. »Mm …,Burghotel Sylter Sand. Da könnten Sie eventuell noch Glück haben.«

Cinderella schöpfte neuen Mut. »Wirklich?«

»Ja, ich kenne den Portier dieser übergroßen Luxus-Sandburg.«

»Sandburg?«

»Völlig verrückt, oder? Aber ich sage Ihnen, dieses Hotel ist seit seiner Eröffnung das beliebteste auf Sylt. Ein Hotel in Form einer Sandburg zu bauen … Eine verrückte Idee.« Er zog sein Handy aus der Hosentasche und drückte sich durchs Menü. »Soll ich für Sie mal anfragen?«

»Das wäre gewissermaßen meine Rettung.«

Nach und nach kehrte ihr Lächeln zurück. Vielleicht hatte sie ja doch mal ein bisschen Glück in all dem Unglück. Tatsächlich gab es noch eine freie Juniorsuite.

»Haben Sie tausend Dank. Sie haben uns …, wie soll ich sagen, vor einer Nacht auf der Bahnhofsbank bewahrt.« Dabei strich sie Tommy übers Haar. Er wirkte müde und musste dringend in ein Bett.

Der Taxifahrer schmunzelte. »Für eine hübsche Touristin tue ich fast alles.«

»Nein, ich bin nicht auf Urlaub. Eher eine spontane Neu-Sylterin.«

»Sie wollen auf Sylt bleiben?«

»Das habe ich vor.«

»Dann sieht man sich womöglich öfter? Ich meine hier auf der Insel.«

»Gut möglich.« Cinderella wich seinen Blicken aus und griff nach dem Gepäckwagen. »Sagen Sie mir noch, in welche Richtung ich muss?«

Der Mann lachte. »Sie wollen doch nicht etwa mit diesem Klapperding und ihrem Sohn bis List laufen?«

Röte stieg ihr ins Gesicht. »Wieso nicht?«

»Zwanzig Kilometer im Dunkeln? Nein! Ich glaube, Sie sollten mir lieber ihr Gepäck überlassen und ins Auto steigen.«

Cinderella zögerte. Zwanzig Kilometer klangen nach einer verdammt hohen Taxirechnung. Nein! Sie musste ihr Geld zusammenhalten und eine günstigere Alternative finden.

»Ach, wissen Sie, wir nehmen lieber den Bus. Stimmt’s, Tommy?«

Tommy nickte. »O ja, Busfahren ist cool.«

»Dann müssen Sie aber diese Nacht doch mit einer Bank vorliebnehmen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Der letzte Bus ist weg. Und der nächste fährt erst in einigen Stunden.«

In einigen Stunden?

Cinderella schluckte. »Dann werden wir diese Gelegenheit nutzen, um die Insel besser kennenzulernen und laufen.«

Was waren schon zwanzig Mal eintausend Meter? Gerade mal doppelt soviel wie ihr bisheriger Weg zur Arbeit – der Änderungsschneiderei ihrer Stiefmutter. Und dieser Fußmarsch würde sie auf andere Gedanken bringen.

Der Taxifahrer schüttelte verständnislos den Kopf. »Mitten in der Nacht und mit einem Kind? Nun steigen Sie schon ein. Die Wetterfrösche haben Sturmböen vorausgequakt. Und ich berechne auch nur einen Zehner.«

Sie lachte verlegen. »Die Wetterfrösche?«

»Ja. Und die Meteorologen meinen das auch.«

Er öffnete die Hintertür seines Taxis. »Und?«

Cinderella nickte und wies Tommy an einzusteigen. Und während sie den Antisturm-Knoten in ihrem Kleid löste, um das Auto besteigen zu können, verstaute der Taxi-Mann das Gepäck im Kofferraum.

Wenig später kamen sie...