Der Ring der Jägerin - Roman

von: Andrea Schacht

Blanvalet, 2012

ISBN: 9783641063955 , 448 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 7,99 EUR

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Der Ring der Jägerin - Roman


 

Kapitel 1

Ich brütete über meinen Unterlagen – Bilanzanalyse. Ein trockenes Thema an einem kalten Novemberabend. Aber ich hatte mir nun mal vorgenommen, dieses Abendstudium durchzuhalten, und in einem halben Jahr würde ich es wohl geschafft haben.

Ein Klopfen an der Fensterscheibe schreckte mich kurz auf. Irritiert sah ich hoch. Es klopfte noch einmal. Das konnte eigentlich nicht sein, wer sollte schon im zweiten Stock an die Fensterscheibe klopfen? Also ignorierte ich es. Wahrscheinlich waren es nur die Zweige des Kirschbaums vor dem Haus, die sich im Wind bewegten.

»Zur Beurteilung der Liquidität werden die Deckungsgrade sowie Liquiditätsgrade …«

Es klopfte schon wieder! Verärgert starrte ich in die spiegelnde Scheibe. Draußen war es jetzt, um halb neun, tiefe Nacht. Ich erkannte nur mein eigenes Gesicht im Glas, ein bisschen müde schon um die Augen, die sorgfältig aufgesteckten Haare ein wenig durcheinandergeraten, diese hässliche Nase dominierend über ungehalten zusammengekniffenen Lippen. Katharina, wie ich sie nur zu gut kannte!

Ich wollte mich abwenden, als eben der Vollmond sein kaltes Licht durch die Wolkenfetzen warf. Er zeigte sein weißes Gesicht, und mir war es, als könnte ich eine kleine, helle Gestalt vor dem Fenster erkennen, die koboldartig auf und ab hüpfte. Aber ich hatte bereits seit meinem sechsten Lebensjahr aufgehört, an irgendwelche Geister zu glauben – nachdem ich nämlich entdeckt hatte, dass sich hinter der Maske des Nikolaus mein Onkel Hans-Peter versteckte. Darum ignorierte ich das seltsame Treiben und versuchte, mich wieder auf meine Kennzahlen zu konzentrieren.

»Häufige Verwendung finden darüber hinaus die Kennzahlen Working Capital und die Effektivverschuldung …«

Es wollte nicht so recht klappen heute Abend. Mein Kopf schmerzte schon seit dem frühen Nachmittag, und meine Konzentrationsfähigkeit ließ mehr und mehr zu wünschen übrig. Dumme weibliche Schwächen, sagte ich mir. Aber immer bei Vollmond fühlte ich mich irgendwie angeschlagen.

Diesmal klopfte es an der Balkontür, und ein seltsames Geräusch – fast ein Schrei – begleitete es. Mit einem bösen Wort auf den Lippen knallte ich das Lehrbuch zu und stand auf, um dem Treiben ein Ende zu machen. Wenn die Rollläden unten waren, würden die Geräusche wohl aufhören. Als ich an das Fenster trat und nach draußen schaute, erkannte ich die Ursache der Störung. Auf dem Balkon saß eine weiße Katze und hatte die Pfote erhoben, um an das Glas zu schlagen. Liebe Zeit, wie war die denn hier hochgekommen? Und wie die mich ansah! Noch einmal klopfte sie und maunzte dabei herzerweichend.

Ich habe nicht viel für Tiere übrig, weder für Hunde noch für Aquariumsfische, für Wellensittiche oder gar Katzen. Sie stören mich zwar nicht, aber sie sind mir gleichgültig. Dieses Tier aber gab dermaßen deutlich zu verstehen, dass es hineinwollte, dass ich fast ohne es zu wollen die Tür öffnete. Wie ein Blitz war das weißpelzige Geschöpf in das Wohnzimmer geschlüpft und setzte sich mitten im Raum hin, um sich den Bauch zu lecken.

»Ich brauch keine Katze, also verschwinde wieder!«, fuhr ich sie unwillig an, aber das schien die Katze nicht zu interessieren. Sie hob den Kopf und schaute mich durchdringend an. Ich starrte zurück. Ihre Augen waren schon beeindruckend – strahlend blau und irgendwie abgründig. Minutenlang verharrten wir so, und dann, ich gebe es zu, hielt ich den Blick nicht mehr aus und sah zur Seite. Damit schien das Tier zufriedengestellt, und es legte sich lang ausgestreckt auf den Boden.

»Du kannst nicht hierbleiben, du blödes Vieh. Verschwinde!«

Ich wies nochmals zu der offenen Balkontür, doch das hinterließ überhaupt keinen Eindruck. Im Gegenteil! Die Haltung der Katze signalisierte mir ein ganz besonders eindeutiges »Pfff!«. Da mir allmählich kalt wurde, gab ich nach und schloss die Tür. Außerdem hatte ich Hunger und wollte mir endlich etwas zu Essen machen. Dann würde ich mich wieder um die Katze kümmern.

Dachte ich.

Die Katze war da anderer Meinung.

Kaum hatte ich die Küchentür aufgemacht, schoss sie hinterher und inspizierte den Raum. Die Kühlschranktür hatte es ihr besonders angetan, als ob sie wüsste, dass dahinter Nahrungsmittel lagerten. Ich ignorierte sie, schnitt mir zwei Scheiben Brot ab, legte eine Tomate dazu und holte das Stück geräucherte Putenbrust aus dem Kühlschrank. Während des Essens wollte ich den Artikel lesen, den ich am Morgen begonnen hatte, und blätterte ein paar Augenblicke in der Zeitschrift herum. Als ich die Seite gefunden hatte, griff ich nach dem Sandwich – es bestand noch aus den beiden Brotscheiben und der Tomate. Das Stück Putenfleisch befand sich zur einen Hälfte in und zur anderen Hälfte außerhalb der Katze. Ich war so verblüfft, dass mir die Worte fehlten. Darum konnte ich – vermutlich mit weit aufgerissenen Augen – beobachten, wie das weiße Miststück mit großem Genuss das saftige Fleisch verputzte und sich anschließend zufrieden grinsend die Lippen leckte.

Die Katze grinste wirklich.

»Sag mal, tickst du noch ganz richtig, du dämliches Biest?«, fauchte ich sie an. Aber die Katze erhob sich nur, stellte ihren Schwanz stolz auf, drehte mir den Hintern zu und schlenderte ins Wohnzimmer zurück.

Irgendwie musste ich jetzt doch lachen. War es nicht meine Schuld gewesen, das Tier hereinzulassen – und dann auch noch einen Teller mit einem Leckerbissen hinzustellen und nicht darauf zu achten? Die Katze war ja wohl hungrig gewesen. Und ich hatte noch etwas Käse in Reserve.

Als ich ins Wohnzimmer zurückging, lag mein ungebetener Gast malerisch auf dem dunkelblauen Sessel und fusselte ihn mit weißen Haaren voll. Prima! Ich hasse Hausarbeit.

»Du hast nicht zufällig das Bedürfnis, wieder nach draußen zu gehen?«

»Mirrr!«

Das war der erste Laut, den sie, abgesehen von dem Maunzen vorhin, von sich gab. Er sagte mir nichts. Aber da sie auch nicht mit dem kleinsten Pfotenzucken zu verstehen gab, dass sie sich von dem weichen Polster zu entfernen gedachte, deutete ich es als Ablehnung.

Wie gesagt, mit Tieren hatte ich bisher wenig zu tun. Von Katzen wusste ich nur, dass sie launisch und hinterhältig waren und unaufgefordert hässliche Kratzer austeilten. Also traute ich mich auch nicht, sie anzufassen. Meine Cousine Sabina, die einen Wuscheltiger ihr Eigen nennt, schwärmt mir zwar immer wieder vor, wie zärtlich und verschmust dieser sei, aber darauf wollte ich es bei dem fremden Tier nicht ankommen lassen. Allerdings betrachtete ich es jetzt etwas genauer.

Die Katze sah im Grunde sehr edel aus, was mich vermuten ließ, dass sie von Rasse war. Schmaler Kopf, dichtes, sehr gepflegtes, fleckenlos weißes Fell, zartrosa Nase, leicht gebogen, rosa Pfoten, dünner Schwanz, recht große Ohren, innen auch rosig, fast durchschimmernd, und Augen, die an leuchtende blaue Edelsteine denken ließen. Wenn man es so betrachtete, war sie eine Schönheit. Auffallend in ihrem rechten Ohr war ein dünner goldener Ring, der wie gehämmert wirkte. Er war so klein, dass ich ihn anfangs übersehen hatte. Und er sah fast so aus wie die kleinen Kreolen, die ich auch zu tragen pflegte.

Ich kniete mich vor dem Sessel nieder und betrachtete die Katze genauer. Sie ließ die Prüfung ruhig über sich ergehen und gab ganz leise Laute von sich, so ein Brummeln tief aus der Kehle. Ob das ein gutes Zeichen war? Vorsichtig hob ich die Hand, um ihr über den Nacken zu streichen, immer bereit, sie blitzschnell zurückzuziehen, wenn eine der krallenbewehrten Tatzen nach mir schlagen sollte. Aber nichts dergleichen geschah, nur das Brummeln wurde intensiver, als ich über den seidigen Kopf strich. Dann schloss sie die Augen und schien in einen tiefen Schlaf zu sinken. Auch ich fühlte mich erschöpft und müde und beschloss, Katze Katze sein zu lassen, und ging zu Bett.

Ein Kitzeln weckte mich. Etwas kribbelte mich an der Nase. Es war lästig. Ich strich mir verschlafen und ohne die Augen zu öffnen, meine Haare aus dem Gesicht. Sie sind sehr lang, und wenn ich sie abends nicht zu einem Zopf flechte, stören sie mich furchtbar.

Das Kitzeln hörte nicht auf. Außerdem roch es nicht gut. Nach Mundgeruch. Igitt, das hatte ich das letzte Mal ertragen müssen, wenn mein ehemaliger Mann mich morgens anhauchte. Den Alptraum wollte ich lieber abschütteln, deshalb machte ich also doch die Augen auf. Im fahlen Licht, das durch die Vorhänge fiel, sah ich die weiße Gestalt neben mir sitzen, und mit einem Schlag kam die Erinnerung an die Katze, die ich abends hereingelassen hatte.

»Mauuuuuu«, jaulte sie mir jetzt ins Ohr. Es war fünf Uhr dreißig, und eine Stunde Schlaf hätte ich noch gehabt. Zornig schubste ich sie vom Bett. Sie kam mit einem Protestjammern auf und quakte los. Ich zog mir die Bettdecke über die Ohren und versuchte, das Gelärme zu ignorieren. Nach einer Weile verstummte es auch, und ich dämmerte noch bis zum Piepsen des Weckers weiter.

Als ich dann aufstand, war von dem Tier keine Spur zu sehen. Ich streckte mich, schlug die Decke zurück und ging ins Bad. Verschlafen sah mich Katharina Leyden im Spiegel an. Vollmondnächte! Nach Vollmondnächten habe ich immer Ringe unter den Augen – obwohl ich noch nicht einmal dreißig bin. Mal sehen, was eine heiße Dusche da reparieren konnte. Ich zog mir das lange weiße Nachthemd – mein einziges und ganz geheimes Zugeständnis an die Romantik – über den Kopf und wollte gerade in die Duschwanne steigen, als ich die Bescherung sah.

Hier hatte die Katze einen deutlich sichtbaren und scheußlich stinkenden Haufen...