Phlebologie - Plädoyer für einen überfälligen Paradigmenwechsel

von: Thomas Stumptner

Hogrefe AG, 2021

ISBN: 9783456760506 , 154 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 30,99 EUR

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Phlebologie - Plädoyer für einen überfälligen Paradigmenwechsel


 

|19|1  Kritische Vorverständigung


Beinleiden, Venenwandschwäche, Staubeschwerden, Venenstau, dicke Beine, offene Beine, Ödem, Krampfadern, Besenreiser, Phlebologie, Lipödem, Lymphödem, Lipolymphödem, Phlebolymphödem … Eine Vielzahl solcher Begriffe geistert durch die Welt für Probleme, die für die Betroffenen wie auch gesamtgesellschaftlich und gesundheitsökonomisch eine erhebliche Bedeutung haben.

Über die Jahrhunderte hat sich eine Vielzahl von Ärzten und Forschern verschiedenster Disziplinen, häufig in genialer, hervorragender und mutiger Weise, mit Aspekten aus dem weiten Kreis der Erscheinungsformen von Beinvenenerkrankungen auseinandergesetzt. In den vergangenen hundert Jahren haben sie große Klarheit in die relevanten Strukturen und Funktionszusammenhänge gebracht. Ist gar schon alles Wesentliche erforscht, um kausal zu behandeln? Ich meine, ja! Denn das phlebologische Geschehen lässt sich ohne wesentliche Lücken zum Zweck einer sinnvollen, wissenschaftlich begründeten Therapie und dauerhaft stabiler Behandlungsergebnisse mit dem wissenschaftlich nachgewiesenen Wissen darstellen.

Allerdings gibt es bis heute keine allgemein akzeptierte Vorstellung von der Funktion der Beinvenen, deren Erkrankungen und einer ursächlichen Behandlung: So werden Krampfadern meist als das eigentliche Übel angesehen und behandelt; die Thrombose oder das Beingeschwür gehören zwar irgendwie dazu, werden aber doch als eigenständig betrachtet. Eine klare Vorstellung, die sich durchgängig an den Gegebenheiten, Zusammenhängen und an eindeutigem und bewiesenem Wissen orientiert, existiert nicht. Es fehlt eine allgemein anerkannte Sichtweise der Beinvenen, welche die relevanten Strukturen und Funktionen, die Erkrankungen, ihre Entstehung, Symptome, Befunde, die Untersuchungsmethoden und Therapien, deren Ergebnisse und Erfolge bzw. deren fehlende Erfolge und Rezidive logisch und schlüssig erklären kann.

Die phlebologische Lehrmeinung


Nach der gängigen phlebologischen Vorstellung kann „die venöse chronische Insuffizienz als klinisches Syndrom mehrere Ursachen haben, wie Varikose, Obstruktion oder Refluxe der tiefen Achse“, [231]. Noch im gleichen Satz werden aber diese Gegebenheiten relativiert, und es wird festgestellt, dass „die Behandlung eines einzelnen, anatomischen Befundes nicht unbedingt die Klinik nachhaltig verbessern muss“, [231]. An anderer Stelle wird umgekehrt die chronische venöse Insuffizienz (CVI) als mögliche Ursache einer Thrombose beschrieben [102].

Zwischen den Funktionsvorstellungen mit der daraus resultierenden Behandlung und dem klinischen Alltag besteht eine erhebliche Diskrepanz ([119], [293]). So wird ein venöses Ödem häufig gefunden. Die nach den gängigen Vorstellungen der Zusammenhänge indizierte Krampfaderbehandlung beseitigt es dann – oder eben auch nicht [236]. Umgekehrt wird ein Ödem häufig diagnostiziert, ohne dass Krampfadern zu finden sind ([5]; [34]; [236]). |20|Von Krampfadern wird behauptet, sie seien für die Venenbeschwerden ursächlich. Nach Varizenexhairese bestehen diese Beschwerden aber in 40 % der Fälle weiter, was Zweifel an diesen postulierten Zusammenhängen aufkommen lässt [80]. „Chronic venous insufficiency is a poorly defined term and means a different set of symptoms and signs to different clinicians“ [53]. Aus dem bisher Gesagten lässt sich logisch folgern, dass die als Ursachen geschilderten Zustände für das sogenannte Syndrom vielleicht nicht verantwortlich sind. Sind etwa auch sie nur Symptome von etwas anderem? Denn auch Erklärungsversuche für die Entstehung der angeblichen Ursachen für die „CVI“, die sich logisch und nachvollziehbar aus eindeutigem Wissen aus der Anatomie ergeben würden, fehlen.

Die einstmalige Vereinbarung zum Gebrauch des Begriffs „chronisch-venöse Insuffizienz“ als der Versuch einer funktionellen Systematisierung [233] ist gut nachvollziehbar: Beim Patienten sind je nach Zeitpunkt seines Erscheinens beim Arzt verschiedene Symptome und Befunde feststellbar. Ob diese diagnostiziert werden, hängt vom „Blick“ des Untersuchers, von seinen Fähigkeiten ab. Teil dessen ist auch die jeweilige Form der Untersuchung, die in früherer Zeit mangels apparativer Möglichkeiten mittels des Gesprächs erfolgte und die Sinne des Untersuchenden mehr oder weniger umfassend beanspruchte. Bei der Inspektion fanden sich am leichtesten die sichtbaren Veränderungen, die letztlich, weil regelhaft, immer wieder gefunden wurden und als lokale Schwellungen („lokales Ödem“) sowie verschiedene Hauterscheinungen (Corona phlebectatica, Dermatosklerose, Atrophie blanche, Ulkus u. a.) beschrieben wurden. Ordnend wurden sie als ein Symptom-Komplex („CVI“) zusammengefasst, der sich offensichtlich immer in ähnlicher Weise finden ließ.

Parallel zu diesen Beobachtungen konnte man häufig assoziierte Krankheiten – etwa Thrombose, postthrombotisches Syndrom (PTS), Varizen – diagnostizieren, sodass auch diesbezüglich Zusammenhänge zu bestehen schienen.

Der häufig beeindruckende Befund einer Varikose verleitet verständlicherweise leicht, ihn als eine Ursache für das Geschehen „CVI“ zu betrachten. Nach bekannten anatomischen Zusammenhängen müsste folglich auch eine Gefäßdysplasie mitsamt Reflux zu diesem Symptom-Komplex führen, weshalb auch diese zu den eine CVI verursachenden Krankheiten hinzugenommen wurde. Der an Krampfadern manuell leicht feststellbare Reflux scheint vordergründig solche Überlegungen zu bestätigen und passt in funktionell begründbare Schemata.

Aus solchen Gegebenheiten entwickelte sich über die Zeit ein Gedankengebäude, das dann als Lehrmeinung zum heute gängigen Verständnis wurde: Thrombose, postthrombotisches Syndrom, Dysplasie oder Varikose seien Ursachen phlebologischer Probleme und führten später zum Symptom-Komplex der chronischen venösen Insuffizienz (CVI).

Doch es stellen sich viele Fragen:

  • Woher kommt die Thrombose?

  • Wenn ein postthrombotisches Syndrom eine Thrombose voraussetzt: Warum wird es als eigene Entität neben der Thrombose geführt?

  • Besonders im Vergleich zur überaus großen Häufigkeit von Venenproblemen auch ohne Thrombose, PTS oder Varikose findet sich die Dysplasie höchst selten. Wie passt das hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit zusammen?

  • Wie kommt es zu Krampfadern? Sehr häufig fehlen diese bei Vorliegen des Symptomenkomplexes.

  • Wie erklären sich überhaupt die Venenbeschwerden, sehr häufig ohne Krampfadern oder Thrombose?

  • Sind Folgen für die Venenfunktion beim seltenen Klippel-Trenaunay-Syndrom vielleicht gewissermaßen der Beweis für die Genese der häufigen und in das gängige Gedankenmodell nicht einzuordnenden Ve|21|nenerkrankungen trotz dort nicht fehlender Venenklappen? Statt Klappenagenesie führt die Klappeninsuffizienz zum genau gleichen Ergebnis. Davon handelt dieses Buch.

Viele Erklärungsmodelle erscheinen zu unlogisch und können keine befriedigenden Antworten geben. Bedeutende Autoren ([19]; [38]; [114]; [162]; [222]; [233]; [236]; [259]; [266]; [283]; [381]) beschreiben explizit oder implizit genau diese Diskrepanz zwischen dem bestehenden gängigen Konzept der CVI und fehlenden Erklärungsmöglichkeiten für Beschwerden und Befunde, die sich in dieses Konzept nicht einordnen lassen. Wiederholt ist dieses Phänomen in der Literatur sogar als „Paradox“ [192] bezeichnet worden. Offensichtlich ist die gängige Vorstellung nicht schlüssig. Auf der Suche nach einem schlüssigen Modell der Funktionsweise des Beinvenensystems müssen möglichst viele oder am besten alle die Situation beeinflussende Imponderabilien erkannt und berücksichtigt werden [369].

Es müsste möglich sein, mit dem vorhandenen Wissen ein schlüssiges Konzept für die Funktionsweise des...