Der Spiegel von Feuer und Eis

von: Alex Morrin

cbt Jugendbücher, 2009

ISBN: 9783641031305 , 384 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 7,99 EUR

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Der Spiegel von Feuer und Eis


 

Teil II
Erfrorene Stadt


»Dort liegt Jarlaith.«
Als Morgwen auf dem Kamm eines steilen Abhangs stehen blieb und nach Süden wies, hatte die Sonne den Zenit schon um mehr als die Hälfte des Horizontbogens überschritten. Erschöpft ließ Cassim sich in den Schnee fallen.
In den vergangenen Tagen hatte ihre Welt aus gleißendem Weiß bestanden, auf dem Wolken und Sonne Schattenbilder malten und Farbenspiele in Gold, Feuer und tiefem Blau zauberten.
Es war durch unwegsame Winterwälder gegangen, deren Äste sich unter ihrer weißen Last bis auf den schneebedeckten Boden bogen. Zuweilen hatten scharfe Böen fast mannshohe Wehen aufgetürmt und den Untergrund freigelegt, der immer öfter aus mit Eis überzogenem Geröll bestand. Morgwen hatte sie durch kaltfeuchten Nebel in Höhen geführt, in denen die Luft so dünn war, dass das Atmen schmerzte. Mehr als einmal hatten sie über eine glitzernde Wolkendecke geblickt, die von dem Licht der versinkenden Sonne mit Flammen überzogen wurde und aus der schroffe Berggipfel emporragten. Manche waren mit blendendem Weiß bedeckt gewesen, andere von rotem Gold übergossen. Schatten waren kalt an der einen Seite der Hänge hinabgeflossen, während die andere in Brand zu stehen schien. Feuer und Eis waren über sie hinweggetanzt, bis die Sonne endgültig unter der Decke aus Nebel und Wolken verschwunden war.
Immer wieder war es in tiefem Schnee über steile Abhänge gegangen. Nur vereinzelt hatte ein Felsen oder ein verkrüppelter Baum aus dem Weiß emporgelugt, das die Sonne in unerträgliches bleiches Gleißen verwandelte.
Zerklüftete Bergflanken hatten sich um sie her trotzig in den Himmel gereckt, während sie hintereinander im schneidenden Wind auf schmalen Felsgraten entlangstapften. Zuweilen waren mächtige Bergadler hoch über ihnen dahingeglitten oder die weißgrauen, zotteligen Gestalten von Raugämsen waren über die Felswände gehuscht. Das helle Klacken ihrer Hufe hatte weit durch die klare Luft gehallt. Fernes Grollen, das sich zu einem ohrenbetäubenden Donnern steigerte, hatte von Lawinen gekündet, die sich irgendwo erbarmungslos in die Tiefe wälzten. – Und nun glitzerte dort in der Ferne, im Tal von Temair, eine gigantische Eismoräne im Sonnenlicht. Der Schlund des Gletschertores gähnte über der funkelnden Oberfläche eines zugefrorenen Flusses. In eisigem Blitzen ragten die Pfeiler einer Brücke aus ihm empor, auf der sich ein bunter Strom Reisender mit ihren Wagen und Tieren bewegte. Im ersten Augenblick war Cassim verwirrt, doch dann begriff sie: Die Stadt lag tief im Inneren der Moräne verborgen.
»In drei Stunden sollten wir die goldene Brücke erreichen.«
»Die goldene Brücke?« Verwundert sah Cassim Morgwen an.
»Wenn das, was man sich erzählt, wahr ist, wurde Jarlaith vor langer Zeit aus Feuer und Gold erbaut. Von dem Feuer ist unter dem Eis nicht mehr viel übrig geblieben. Aber das Gold … Die Häuser, auch die ärmlichsten, sollen aus goldgeädertem Lacalmarmor sein und die Mauern des Palastes selbst aus purem Gold. Allerdings ist jetzt alles mit einer Schicht aus Eis überzogen, das niemals schmilzt. Es heißt, ein Fluch der Eiskönigin sei dafür verantwortlich, weil Jarlaith bis zuletzt dem Lord des Feuers die Treue hielt. Sie soll es auch gewesen sein, die das Eis heraufbeschwor, das die Stadt unter sich begrub. – Gehen wir weiter! Du wolltest doch heute Nacht in einem Bett schlafen. Wenn du dieses Bett nicht mit Ungeziefer teilen willst, sollten wir uns ein bisschen beeilen, sonst finden wir keine halbwegs anständige Herberge mehr.«
»Woher weißt du das? Ich dachte, du warst noch nie in Jarlaith?« Cassim stemmte sich entschlossen in die Höhe und machte einen Schritt an Morgwen vorbei auf das Firnplateau hinaus, das vor ihnen schräg abwärtsführte. Sie hörte noch, wie Jornas zu einem Protest ansetzte, dann gab das Weiß unter ihren Füßen nach. Schneemassen rissen sie abwärts, erstickten ihren Schrei. Etwas rutschte mit ihr zusammen in die Tiefe. Ein Ruf erklang, eine Hand streifte ihre, verschwand. Sie wurde herumgeworfen, prallte schmerzhaft gegen einen Felsen, Schnee schwappte über sie hinweg, trug sie weiter. Verzweifelt kämpfte sie, ohne zu wissen, wo oben und unten war, versuchte, nicht begraben zu werden. Um sie her gab es nur noch Kälte und fahle Schatten, die sie immer weiter mit sich rissen. Jäh schlossen sich Arme um ihre Mitte. Plötzlich war da wieder Licht. Sie schlitterte auf einer Schneewelle abwärts. Das Tal kam immer näher. Ein paar kahle Bäume standen direkt in ihrem Weg. Kreischend klammerte sie sich an Morgwen, der sie fester an sich zog. Der erste Stamm huschte an ihnen vorbei, der zweite. Der dritte und vierte standen zu dicht und beendeten ihre Rutschpartie hart und gnadenlos. Schnee brandete über sie hinweg, floss weiter ins Tal, wo er verebbte. Einen Augenblick rang Cassim schwindelig und schwach nach Atem, ehe es ihr gelang, sich auf einem Ellbogen hochzustemmen. Morgwen lag halb unter ihr, von einer Schicht aus Schnee bedeckt. Seinem seltsam abgehackten Keuchen nach zu urteilen, bekam er keine Luft. Er war verletzt! Panisch scharrte sie das Weiß von ihm – und starrte fassungslos auf ihn hinab, als sie erkannte, dass die Laute, die sie so erschreckt hatten, gar kein Keuchen waren. Sondern Gelächter. Da lag er! Alle viere von sich gestreckt – und lachte, dass er beinah erstickte.
»Du … Du …« Ihre Finger zerrten an seinem Hemd. In einer Mischung aus Wut und Erleichterung rang sie hilflos nach Worten.
Er hob den Kopf aus dem Schnee. Eiskristalle glitzerten in seinem Haar, hingen in Wimpern und Brauen. Purer Übermut blitzte in den hellblauen Tiefen seiner Augen. »Noch mal?«
Cassim schnappte nach Luft. »Du … Du bist verrückt!«, brach es aus ihr heraus. Ihre Faust traf seine Brust. Morgwen zog sie zu sich in den Schnee, schlang die Arme um sie und lachte nur noch lauter.
Erst als auf sie zukullernde Eisbrocken und Schritte, die von einem unüberhörbaren Murren begleitet wurden, Jornas ankündigten, schaffte Cassim es, sich von Morgwens Brust zu befreien. Es grenzte beinah an ein Wunder, dass der Faun nicht mit in die Tiefe gerissen worden war, als sie versehentlich die Firnwechte losgetreten hatte. Zumindest hatte ihnen die Schlitterpartie einen anstrengenden Abstieg erspart, denn der Schnee hatte sie das letzte Stück des Abhangs hinuntergetragen. Sie hatten das Tal von Temair endgültig erreicht. Vor ihnen erstreckte sich die weiße Ebene, auf der in der Ferne das helle Gleißen der Eismoräne auszumachen war.
Als sie nach zwei Stunden schließlich die Brücke nach Jarlaith erreichten, war der Himmel ein Farbenspiel aus Kupfer und Feuer. Die ganz in Rot und Gold gekleideten Krieger der Stadtwache Jarlaiths ließen Cassim, Jornas und Morgwen passieren, ohne ihnen weiter Beachtung zu schenken. Ihre Aufmerksamkeit galt Fuhrwerken und Händlern, die in der Stadt ihren Geschäften nachgehen wollten und deshalb Zoll zu zahlen hatten.
Von dem Augenblick an, als Cassim den Fuß auf die goldene Brücke setzte und durch den Schlund des Gletschertores schritt, schien es ihr, als hätte sie eine andere Welt betreten. Alles um sie her war mit einer dicken Eiskruste überzogen, die jedoch so klar war, dass man mühelos erkennen konnte, was sich unter ihr verbarg. Die Brücke, über die sie inmitten anderer Reisender gingen, war nicht aus Gold, aber aus mächtigen goldfarbenen Steinquadern, in denen dunkle Adern schimmerten. Das Geländer war mit einem kunstvollen Relief verziert, und seltsam anmutende Brückenfiguren lösten sich mit kupfernen Becken ab, in denen hoch auflodernde Ölfeuer brannten. In regelmäßigen Abständen reckten sich elegant geschwungene Brückentürme gegen die glänzende Gletscherkuppel weit über ihren Köpfen. Ein stetiges Gurgeln, Rauschen und Plätschern verkündeten, dass der Fluss, über den diese Brücke ursprünglich einmal gebaut worden war, unter der dicken Schicht aus Eis, die ihn unter sich gefangen hielt, noch immer in seinem Bett dahinströmte. Die Wände der Moräne, die sich hoch über ihnen in einem perfekten Bogen wölbten, waren vollkommen glatt und wurden von den Flammen in den Kupferbecken in spiegelndes Gold verwandelt. Die Luft war hier so kalt, dass ihr Atem noch auf ihren Lippen zu gefrieren schien.
Dann passierten sie den letzten Brückenturm, und eine gigantische Gletscherhöhle öffnete sich vor ihnen, in der Jarlaith die Spitzen seiner Zinnen majestätisch gegen seinen eisigen Kerker reckte. Und auch hier war alles mit einer Schicht aus vollkommen klarem Eis bedeckt. Ihr undurchdringlicher Panzer aus Kälte ließ die aus dem gleichen goldenen Stein erbauten Mauern der Stadt schimmern und glitzern.
Wie es schien, war Jarlaith ursprünglich auf einer Insel errichtet worden, um die sich die beiden Arme eines Flusses geschmiegt hatten. Sanft stiegen eisüberkrustete Straßen und Treppen zu ihrer Mitte hin an. Häuser mit steilen, weiß bestäubten Dächern drängten sich aneinander, als versuchten sie, sich gegenseitig zu wärmen. In ihrer Mitte erhob sich gleißend und funkelnd wie ein Firndiamant der Palast von Jarlaith. Auf seinen Zinnen waren rote und goldene Banner im Eis erstarrt. Ein herrlicher Vogel, dessen Gefieder aus Flammen zu bestehen schien, breitete auf ihnen seine mächtigen Schwingen aus, als wolle er sich im nächsten Moment mit einem wilden Schrei in die Luft erheben.
Doch während die eine Hälfte der Stadt erleuchtet war und voller Leben zu sein schien, war die andere dunkel und still. Hier bedeckte das Eis nicht nur...