Lass los, was dich festhält - Von der Kunst, du selbst zu sein

von: Penny McLean

Ansata, 2010

ISBN: 9783641047498 , 240 Seiten

Format: ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Lass los, was dich festhält - Von der Kunst, du selbst zu sein


 

Während ich dieses Buch schrieb, besuchte mich ein Freund aus Köln. Wir verbrachten einen netten Nachmittag mit all den schönen Dingen, mit denen man Gäste in Wien erfreuen kann. Dazu gehört vor allem der Besuch mehrerer Kaffeehäuser.
Nach zahlreichen Melangen und Sachertorten kamen wir - ich weiß nicht mehr warum - auf Dissertationen zu sprechen, wie viel Mühe sie machen und wie wenige Leute sie letztendlich lesen, nicht einmal diejenigen, denen man das hehre Werk gewidmet hat.
»Weißt du«, sagte Dirk plötzlich nachdenklich, »ich muss gerade an einen Bekannten denken, der auch ungefähr zu meiner Zeit seine Doktorarbeit geschrieben hat. Und ich glaube, er hatte die genialste aller Widmungen.«
»Ach«, sagte ich interessiert, »wie lautete sie denn?«
»Du wirst es nicht glauben«, sagte Dirk, »sie hieß: Für die Katz.« Wir bekamen beide auf der Stelle einen solchen Lachanfall, dass uns der Ober Servietten bringen musste, mit denen wir unsere Tränen trocknen konnten.
Als ich wenige Stunden später wieder an meinem Schreibtisch saß, dachte ich mir: Genau das ist es! Das soll meine Widmung sein:
Hoffentlich nicht für die Katz!

Die Vorgeschichte
An einem Nachmittag vor etwa zwanzig Jahren schickte mir ein Psychiater einer süddeutschen Klinik eine praktisch austherapierte Patientin mit der Anmerkung vorbei: »Vielleicht fällt dir ja dazu etwas ein.«
Die Frau erschien und verhielt sich scheinbar völlig normal. Wir unterhielten uns bestens über das Wetter, Hundezucht und Blumensteckarten. Doch zwischendurch beugte sie sich mitten im Gespräch ganz nah zu mir und flüsterte: »Jetzt ist er wieder da.« Darauf war ich von ihrem Arzt vorbereitet worden, fühlte mich also nicht besonders überrumpelt. Ich flüsterte zurück: »Sagen Sie mir, wenn er wieder verschwunden ist.« Und dann redeten wir ganz normal weiter. Wenig später seufzte sie erleichtert: »Jetzt ist er weg, aber ich weiß, er kommt wieder.«
Ich sagte ihr, sie möge bei seinem allfälligen Wiedererscheinen einfach weiterreden, mir aber einen Wink geben und dann wiederum auf ein Zeichen von mir einfach aufstehen und blitzartig meine Wohnung verlassen.
»Und was geschieht dann mit ihm?«, fragte sie besorgt. Ich versicherte ihr, dass sie sich keinerlei Sorgen machen müsse, denn ich würde ihn auf der Stelle für immer in meinem Wohnzimmerschrank in Verwahrung nehmen. Und außerdem solle sie bitte als künftigen Schutzbegleiter meinen Hausgeist, eine kleine mexikanische Steinfigur, an sich nehmen, um auch weiterhin gegen unerwünschte Störenfriede gefeit zu sein.
Gesagt, getan. Das Zeichen kam, sie ergriff die Figur und entschwand in Windeseile, während ich meinen Schrank laut öffnete und schloss. Tage später rief mich der Psychiater an: »Bitte sag mir, was du getan hast! Sie ist ohne Symptom!« Ich erzählte ihm den ganzen Ablauf, und er zeigte sich nicht im Mindesten erstaunt. »Wie bist du auf die Idee gekommen?«, fragte er. Ich gab zu, dass ich einem Impuls gefolgt war. Wie so oft.
Von diesem Tag an änderte sich meine »Beziehung« zum Loslassen. Denn jetzt wusste ich etwas Grundsätzliches: Wer das Bedürfnis in sich spürt, etwas loszulassen, muss zunächst genau wissen, was er loslassen möchte, dann, warum er es loslassen will, und schließlich, wogegen er das Losgelassene einzutauschen wünscht. Denn das ist die Voraussetzung für das Gelingen eines Ablösungsprozesses. Das Universum kennt die Ersatzlosigkeit nicht. Warum also sollten ausgerechnet wir sie praktizieren wollen? Was kann es nützen, mit einem Vakuum dahinzuvegetieren?
Die anschließenden Erfahrungs- und Erkenntnisprozesse dauerten bescheidene zwanzig Jahre. Dann riefen zwei Berliner Herausgeber an und fragten, ob ich nicht einen Beitrag für eine Anthologie schreiben wolle. Das Thema: Loslassen. Ich war nicht begeistert. Doch dann erkannte ich die Chance und schrieb die »Gebrauchsanweisung für den Umgang mit toten Kamelen«. Diese verendeten Wüstentiere standen symbolisch für all das Überflüssige, Belastende und Abgelebte, das ein Menschenleben beschweren kann. Und sie waren die Vorboten für dieses Buch, das in einer Lebensphase entstehen sollte, in der sich Erfahrung, Beobachtung und Erkenntnis zu jenem wahrnehmbaren Wissen zusammenfügen, das sich bei jedem Menschen erst ab einem ganz bestimmten Lebensabschnitt zeigen kann, nämlich im zehnten Lebensjahrsiebt, also nach Vollendung des 63. Lebensjahrs.
Ich werde in diesem Jahr meinen 65. Geburtstag feiern. Also bin ich nun anscheinend alt genug, um loszulassen und vielleicht auch um darüber zu schreiben.

Die vielen Gesichter des Loslassens
Vor mehr als 1600 Jahren geriet ein junger Mann in eine Lebenskrise. Bis dahin hatte er ein in jeder Hinsicht nicht gerade bescheidenes Leben geführt und - begünstigt von äußeren Umständen - auf nichts verzichten müssen. Nun war er an einem Punkt angekommen, wo er fühlte, dass in seinem Leben etwas Wesentliches fehlte, nämlich die Erkenntnis des tieferen Sinns.
Die Rede ist hier von Augustinus von Hippo, dem späteren großen Heiligen, der sich - Gott sei's gedankt - nicht bei einem Psychotherapeuten auf die Couch legte, weil dies damals noch nicht üblich war, sondern stattdessen unter einen Feigenbaum in einem Mailänder Garten. So gelagert hörte er, will man den Berichten glauben, eine innere Stimme, die ihm etwas zurief, das ihn veranlasste, zu den biblischen Paulusbriefen zu greifen, sie nach dem Zufallsprinzip irgendwo aufzuschlagen und das, was dort zu lesen war, als Lebensweisung anzunehmen: »Nicht in Fressen und Saufen, nicht in Wollust und Unzucht, nicht in Hader und Neid sollt ihr leben, und pflegt das Fleisch nicht zur Erregung eurer Lüste.«

Der zweiunddreißigjährige Augustinus nahm diese Weisungen bitterernst und befolgte sie von diesem Tag an genauestens bis zu seinem Tod. Er verzichtete also fortan auf jegliche Form ausschweifender Lebensführung, sexuelle Genüsse inklusive. Bitte rufen Sie sich noch einmal ins Gedächtnis, dass ich hier nicht von einem achtzigjährigen Tattergreis berichte, bei dem es keine Rolle mehr spielte, ob er »verzichtete« oder nicht. Nein, hier handelte es sich um einen im Tierkreiszeichen Skorpion geborenen und in der Blüte seines Lebens stehenden Mann.
Es vergingen knapp 1600 Jahre - in denen die Person des Augustinus eher an Bedeutung gewann, als dass sie ihr abhanden gekommen wäre - bis ein 29 Jahre alter Wiener sein ungeheures Erbe samt und sonders verschenkte, um sein restliches Leben in eher beschränkten Verhältnissen zu fristen. Die Rede ist hier von dem sagenhaften Ludwig Wittgenstein, dem Schöpfer des Tractatus Logico-Philosophicus, eines Grundlagenwerks der analytischen Sprachbetrachtung.