Theo Boone und der unsichtbare Zeuge - Band 1

von: John Grisham

Heyne, 2013

ISBN: 9783641109530 , 288 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 6,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Theo Boone und der unsichtbare Zeuge - Band 1


 

Eins

Theodore Boone war Einzelkind und frühstückte deswegen meist allein. Sein Vater, ein viel beschäftigter Anwalt, ging früh aus dem Haus, weil er sich jeden Morgen um sieben in einem Diner in der Innenstadt mit Freunden traf, um seinen Kaffee zu trinken und den neuesten Tratsch zu erfahren. Theos Mutter, selbst eine viel beschäftigte Anwältin, wollte seit zehn Jahren zehn Pfund abnehmen und hatte deswegen beschlossen, dass Kaffee und die Zeitung zum Frühstück reichten. Also saß Theo allein am Küchentisch, aß seine Cornflakes mit kalter Milch und trank seinen Orangensaft, ohne dabei die Uhr aus den Augen zu lassen. Bei den Boones gab es überall Uhren, wie es sich für eine gut organisierte Familie gehörte.

Ganz allein war er jedoch nicht. Der Hund neben seinem Stuhl leistete ihm Gesellschaft. Judge war eine undefinierbare Promenadenmischung, deren Alter und Herkunft wohl für immer ein Rätsel bleiben würden. Theo hatte ihn zwei Jahre zuvor mit seinem Auftritt vor Gericht in letzter Sekunde vor dem sicheren Tod gerettet, was ihm Judge nie vergessen würde. Genau wie Theo mochte er am liebsten Cheerios mit Vollmilch – bloß nicht mit fettarmer Milch –, und so frühstückten sie jeden Morgen gemeinsam schweigend.

Um acht wusch Theo das Geschirr im Spülbecken aus, stellte Milch und Saft in den Kühlschrank zurück, ging ins Fernsehzimmer und küsste seine Mutter auf die Wange.

»Ich muss los«, sagte er.

»Hast du Geld fürs Mittagessen?«, fragte sie – eine Frage, die sie ihm fünfmal pro Woche stellte.

»Wie immer.«

»Und die Hausaufgaben?«

»Alles unter Kontrolle, Mom.«

»Wann sehe ich dich?«

»Ich komme nach der Schule in die Kanzlei.« Theo ging nach der Schule immer in die Kanzlei, an jedem einzelnen Tag, aber Mrs. Boone fragte trotzdem jeden Morgen.

»Pass auf dich auf«, sagte sie. »Und vergiss nicht: Immer lächeln.«

Theo trug seit mittlerweile über zwei Jahren eine Zahnspange und sehnte sich verzweifelt danach, das Ding endlich loszuwerden. Da das aber noch dauerte, fühlte sich seine Mutter verpflichtet, ihn ständig daran zu erinnern, dass ein Lächeln Sonnenschein in die Welt brachte.

»Ich lächle doch, Mom.«

»Hab dich lieb, Teddy.«

»Ich dich auch.«

Theo, der immer noch lächelte, obwohl sie ihn »Teddy« genannt hatte, schnallte sich schwungvoll seinen Rucksack auf den Rücken, kraulte Judge am Kopf und verabschiedete sich. Dann lief er durch die Küchentür nach draußen, schwang sich aufs Rad und flitzte durch die Mallard Lane, eine schmale Straße mit vielen Bäumen im ältesten Teil der Stadt. Er winkte Mr. Nunnery zu, der es sich bereits auf der Veranda gemütlich machte, von wo aus er den lieben langen Tag das bisschen Verkehr beobachtete, das sich ins Viertel verirrte. An Mrs. Goodloe, die am Straßenrand stand, sauste Theo wortlos vorbei, weil sie so gut wie taub war und auch so nicht mehr viel mitbekam. Dafür warf er ihr ein Lächeln zu, das sie jedoch nicht erwiderte, weil ihr Gebiss irgendwo im Haus lag.

Der Frühling hatte gerade erst begonnen, und die Luft war klar und kühl. Theo trat so kräftig in die Pedale, dass der Wind in seinem Gesicht brannte. Um 8.40 Uhr musste er im Klassenzimmer sein, und er hatte vor der Schule noch wichtige Dinge zu erledigen. Er nahm eine Abkürzung durch eine Seitenstraße, schoss durch eine Passage, wich ein paar Autos aus und überfuhr ein Stoppschild. Für ihn war es ein Heimspiel, die Strecke fuhr er jeden Tag. Vier Straßen weiter wurden die Wohnhäuser von Büros und Geschäften abgelöst.

Das Gericht war das größte Gebäude in der Innenstadt von Strattenburg, gefolgt von der Post und der Bücherei. Majestätisch thronte es auf der Nordseite der Main Street, auf halbem Weg zwischen einer Brücke über den Fluss und einem Park mit Pavillons, Vogelbädern und Kriegerdenkmälern. Theo liebte das Gerichtsgebäude mit seiner Aura der Autorität, den mit wichtiger Miene umherhastenden Menschen und den Anschlagtafeln mit ihren bedeutungsschweren Mitteilungen und Sitzungsplänen. Vor allem aber liebte er die Sitzungssäle selbst. Für Sachen, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne Geschworene verhandelt wurden, standen kleinere Räume zur Verfügung, aber es gab auch einen großen Saal im ersten Stock, in dem Staatsanwälte und Verteidiger miteinander rangen wie Gladiatoren und die Richter herrschten wie Könige.

Theo war dreizehn und hatte noch nicht entschieden, was er werden wollte. Manchmal träumte er davon, ein berühmter Prozessanwalt zu werden, der sich nur mit ganz großen Fällen befasste und jeden Prozess vor einem Geschworenengericht gewann. Dann wieder sah er sich als Richter, der für seine Weisheit und seinen Gerechtigkeitssinn berühmt war. Dazwischen schwankte er hin und her, wobei er praktisch täglich seine Meinung änderte.

An diesem Montagmorgen herrschte in der großen Eingangshalle bereits geschäftiges Treiben. Es sah aus, als wollten die Anwälte und ihre Mandanten möglichst früh in die neue Woche starten. Da sich am Aufzug schon eine Schlange gebildet hatte, sprintete Theo die beiden Treppen zum Ostflügel hinauf, wo das Familiengericht tagte. Seine Mutter war eine bekannte Scheidungsanwältin, deswegen kannte Theo diesen Teil des Gebäudes gut. Scheidungsverfahren wurden vom Einzelrichter ohne Geschworene entschieden, und da die meisten Richter bei solch sensiblen Angelegenheiten keine Zuschauer dabeihaben wollten, war der Sitzungssaal klein. An der Tür standen mit wichtiger Miene einige Anwälte zusammen, die sich offenbar nicht einigen konnten. Theo sah sich im Gang um, bog um eine Ecke – und hatte seine Freundin gefunden.

Sie saß allein auf einer alten Holzbank und wirkte sehr klein, verletzlich und nervös. Bei seinem Anblick lächelte sie und legte eine Hand vor den Mund. Theo setzte sich so dicht neben sie, dass sich ihre Knie berührten. Bei jedem anderen Mädchen hätte er mindestens einen halben Meter Abstand gehalten, um jeden zufälligen Körperkontakt zu vermeiden.

Aber April Finnemore war nicht einfach irgendein Mädchen. Sie waren mit vier Jahren zusammen in einen kirchlichen Kindergarten in der Nähe gekommen und dicke Freunde gewesen, seit er denken konnte. Eine Romanze war das nicht, dafür waren sie zu jung. Theo kannte keinen einzigen Jungen in seiner Klasse, der zugegeben hätte, eine Freundin zu haben. Ganz im Gegenteil. Mit Mädchen wollte keiner was zu tun haben. Und den Mädchen ging es genauso. Theo hatte zwar gehört, dass sich das gründlich ändern würde, aber vorstellen konnte er sich das nicht.

April war einfach eine Freundin, und zwar eine, die im Augenblick dringend Hilfe brauchte. Ihre Eltern ließen sich scheiden. Theo war nur froh, dass seine Mutter nichts damit zu tun hatte.

Keiner, der die Finnemores kannte, war von der Scheidung überrascht. Aprils Vater war ein exzentrischer Antiquitätenhändler und Schlagzeuger einer alten Rockband, die immer noch in Nachtclubs spielte und wochenlang auf Tournee ging. Ihre Mutter züchtete Ziegen und fuhr mit einem knallgelb lackierten umgebauten Leichenwagen in der Stadt herum, um ihren selbst gemachten Ziegenkäse zu verkaufen. Auf dem Beifahrersitz thronte dann ein uralter Klammeraffe mit grauen Schnurrhaaren und mampfte den Käse, der sich noch nie besonders gut verkauft hatte. Mr. Boone hatte die Familie einmal »unkonventionell« genannt, was für Theo »seltsam« hieß. Aprils Eltern waren bereits beide wegen Drogenbesitzes festgenommen worden, hatten jedoch nie im Gefängnis gesessen.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Theo.

»Nein«, sagte sie. »Ich hasse das hier.«

April hatte einen älteren Bruder namens August und eine ältere Schwester namens March, die sich beide abgesetzt hatten. August war am Tag nach seinem Highschool-Abschluss weggegangen. March hatte mit sechzehn die Schule abgebrochen und die Stadt verlassen, sodass ihre Eltern nur noch April schikanieren konnten. Das wusste Theo, weil April ihm alles erzählte. Ihr blieb nichts anderes übrig. Sie brauchte jemanden außerhalb ihrer Familie, dem sie sich anvertrauen konnte, und Theo war ein guter Zuhörer.

»Ich will bei keinem von denen leben«, sagte sie. Es war furchtbar, so über seine Eltern zu reden, aber Theo hatte volles Verständnis. Er verachtete Aprils Eltern dafür, wie sie ihre Tochter behandelten. Er verachtete sie dafür, dass sie ihr Leben nicht in den Griff bekamen, ihre Tochter vernachlässigten und gemein zu ihr waren. Die Liste der Schandtaten war lang. Er wäre lieber weggelaufen, als bei solchen Leuten zu leben. In der ganzen Stadt kannte er kein einziges Kind, das je einen Fuß ins Haus der Finnemores gesetzt hatte.

Es war bereits der dritte Verhandlungstag, und April würde bald als Zeugin im Scheidungsverfahren aufgerufen werden. Dann würde der Richter die Schicksalsfrage stellen: »April, bei welchem Elternteil möchtest du leben?«

Sie hatte keine Ahnung, was sie antworten sollte. Stundenlang hatte sie die Frage mit Theo diskutiert, wusste aber immer noch nicht, was sie sagen sollte.

Theo war völlig unklar, warum diese Leute, die sich nie um April gekümmert hatten, überhaupt das Sorgerecht haben wollten. Ihm waren diesbezüglich Dinge zu Ohren gekommen, über die er mit niemandem...