Die O'Haras 1. So nah am Paradies

von: Nora Roberts

Heyne, 2013

ISBN: 9783641120559

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 4,99 EUR

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Die O'Haras 1. So nah am Paradies


 

2. KAPITEL

Alana folgte den Wasserspuren vom Eingang zur Küche. »Hi, Mom.« Beide Jungen strahlten sie an. Die Schule war vorbei und die Welt wieder in Ordnung.

»Hi, ihr zwei.« Ein paar feuchte Bücher lagen auf der Frühstücksbar. Vor dem Kühlschrank, wo die zwei Jungen standen, hatte sich schon eine kleine Pfütze gebildet. Die Kühlschranktür stand sperrangelweit offen, und die kalte Luft wetteiferte mit der Hitze vom Feuer. Alana überblickte den Schaden und stufte ihn als gering ein. »Chris, das da auf dem Boden, das sieht aus wie dein Mantel.«

Scheinbar überrascht blickte der Jüngste hin. »Tommy Harding hat wieder Ärger im Bus gekriegt.« Er hob seinen Mantel auf und hängte ihn auf einen Kleiderhaken bei der Hintertür. »Er muss zwei Wochen lang vorn sitzen.«

»Er hat Angela angespuckt«, verkündete Ben beifällig. »Direkt ins Haar.«

»Na wunderbar.« Im Vorbeigehen hob Alana Chris’ nasse Handschuhe auf und gab sie ihm. »Ich nehme an, du hast nichts damit zu tun.«

Ben goss sich Saft in ein Glas, was nicht ohne Kleckerei ablief. »Ich habe nur gesagt, dass sie hässlich ist.«

Chris, sonst immer aufseiten der Unterdrückten, mühte sich mit seinen Stiefeln ab. »Klein und hässlich.«

»Ekelhaftes Gesicht«, fügte Ben noch hinzu. »Chris und ich haben einen Wettlauf vom Bus aus gemacht. Ich habe ihm einen Vorsprung gegeben, aber ich habe doch gewonnen.«

»Glückwunsch.«

»Ich hätte fast gewonnen.« Chris kämpfte mit dem zweiten Stiefel. »Und ich habe schrecklichen Hunger.«

»Nimm ein Plätzchen.«

»Ich habe gesagt, schrecklich hungrig.«

Mit seinem runden, blassen Gesicht sah Chris wie ein kleiner Engel aus. Sein blondes Haar lockte sich bis fast über die Ohren, und mit seinen haselnussbraunen Augen strahlte er zu Alana hoch. Seufzend gab sie nach. »Zwei.« Er war einfach ein Herzensbrecher.

»Ich sterbe vor Hunger.« Ben hatte seinen Saft hinuntergestürzt und wischte sich mit der Hand über den Mund. Ihr kleiner Tollkopf. Sein Haar hatte sich zu einem Hellbraun verdunkelt und umrahmte widerspenstig sein Gesicht. Seine Augen waren dunkel und verschmitzt.

»Zwei«, betonte Alana auch für ihn. Sie konnte sich darauf verlassen, dass die zwei ihre Grenzen kannten. Sie war der Boss. Noch.

Ben steckte eine Hand in die Keksdose, die wie eine Ente aufgemacht war. »Wessen Wagen ist das? Er ist nicht schlecht.«

»Der Schriftsteller, erinnerst du dich?« Alana holte ein Wischtuch aus dem Schrank und beseitigte schnell die Pfützen auf dem Boden. »Mr. Crosby.«

»Der, der das Buch über unseren Dad schreiben will?«

»Genau.«

»Verstehe gar nicht, warum jemand etwas über einen lesen will, der tot ist.«

Da war es wieder. Bens deutliche Ablehnung seines Vaters. War es Chucks Schuld gewesen, oder hätte sie sich nicht weigern dürfen, ihr Kind zu sämtlichen Rennbahnen zu schleppen? »Dein Vater war sehr berühmt, Ben. Er wird immer noch bewundert.«

»Wie George Washington?« Chris stopfte sich sein letztes Plätzchen in den Mund.

»Nicht ganz so. Und jetzt geht ihr hoch und zieht euch um. Stört Mr. Crosby nicht. Er hatte eine anstrengende Fahrt und ruht sich wahrscheinlich aus.«

»Okay.« Ben warf Chris einen vielsagenden Blick hinter dem Rücken seiner Mutter zu. »Wir sind mucksmäuschenstill.« Und damit verschwanden die beiden schon in Richtung Treppe.

»Lass die Treppe nicht knarren«, warnte Ben seinen Bruder und stieg sie in einem Zickzack hinauf, den er in mühsamer Kleinarbeit herausgefunden hatte. »Sonst hört er uns.«

»Wir sollen ihn doch nicht stören.« Doch Chris folgte ganz genau dem Weg seines Bruders.

»Wir stören ihn nicht. Wir sehen ihn uns nur an.«

»Aber Mom hat gesagt …«

»Hör zu.« Ben blieb stehen und senkte seine Stimme zu einem dramatischen Flüsterton. »Wenn er jetzt gar kein Schriftsteller ist? Wenn er ein Dieb ist?«

Chris riss die Augen auf. »Ein Dieb?«

»Ja.« Der Gedanke regte Bens Fantasie an, und er beugte sich dicht an das Ohr seines Bruders. »Er ist ein Dieb. Er wartet, bis wir heute Nacht schlafen, und dann räumt er unser Haus aus.«

»Auch meine Lastwagen?«

»Bestimmt. Und ich wette«, zog Ben spannungsvoll in die Länge, »er hat eine Waffe. Wir müssen also ganz ruhig sein und ihn nur beobachten.«

Überzeugt nickte Chris und schlich hinter seinem Bruder die letzten Stufen hoch.

Die Hände in die Hosentaschen vergraben, blickte Dorian aus dem Fenster. Die Hügellandschaft erinnerte ihn an die, die er zu Hause aus seinem Kinderzimmerfenster gesehen hatte. Über allem lag Nebel, und der Regen strömte herunter. Weit und breit war kein anderes Haus zu sehen.

Er fühlte sich angenehm überrascht. Er hatte sich Alana O’Hara Rockwells Haus als ein elegantes Vorzeigeanwesen vorgestellt, mit einer ganzen Schar von Bediensteten. Doch er hatte ein schlichtes, gemütliches Heim gefunden.

Er hatte zwar gewusst, dass sie Kinder hatte, doch die hatte er mit Kindermädchen oder Internaten in Verbindung gebracht. Denn die Frau, die er von Bildern kannte, in einen weißen Nerz gehüllt und mit Diamanten geschmückt, die hätte weder Zeit noch Lust gehabt, sich um Kindererziehung zu kümmern.

Wenn sie diese Frau nicht war, wer zum Teufel war sie dann? Es war seine Aufgabe, das Leben von Chuck Rockwell zu erhellen, doch Dorian musste sich eingestehen, an der Witwe interessierter zu sein.

Wie eine Witwe wirkt sie eigentlich nicht, dachte Dorian und stellte seine Koffer zum Auspacken aufs Bett. Eher wie eine Studentin während der Semesterferien. Andererseits war sie so etwas wie eine Schauspielerin gewesen. Und vielleicht war sie es immer noch.

Ein kaum wahrnehmbares Geräusch erregte seine Aufmerksamkeit. Als Reporter hatte sich Dorian häufig genug in dunklen Gegenden und zwielichtigen Bars aufhalten müssen, um selbst im Hinterkopf Augen bekommen zu haben. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, packte er seinen Koffer aus und blickte gleichzeitig vorsichtig in den Spiegel am Ende des Bettes.

Langsam öffnete sich die Tür seines Zimmers, erst einen Spaltbreit, dann weiter. Und schließlich erkannte er im Spiegel zwei Augenpaare und hörte angespannte Atemzüge.

»Er sieht wie ein Dieb aus«, wisperte Ben aufgeregt. »Er hat einen verschlagenen Blick.«

»Meinst du, er hat eine Pistole?«

»Wahrscheinlich eine ganze Sammlung.« Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, als die Tür ganz aufgerissen wurde und die zwei Jungen ins Zimmer purzelten.

Vom Teppich her blickte Chris hoch in das Gesicht des Mannes, das ihm meilenweit entfernt zu sein schien. Ängstlich schob der Kleine die Unterlippe vor. »Sie kriegen meine Lastwagen nicht.« Es fehlte nicht viel, und er hätte laut nach seiner Mutter geschrien.

»Okay.« Amüsiert kniete sich Dorian neben ihm nieder. »Kann ich sie vielleicht manchmal sehen?«

»Vielleicht.« Chris warf seinem Bruder einen Blick zu. »Sind Sie ein Dieb?«

»Chris!« Verlegen erhob sich Ben. »Er ist eben noch ein Kind.«

»Bin ich nicht. Ich bin sechs.«

»Sechs.« Dorian bemühte sich um einen beeindruckten Blick. »Und du?«

»Ich bin acht – fast. Mom glaubt, Sie sind Schriftsteller.«

»Manchmal glaube ich das selbst.« Ein hübscher Junge, dachte Dorian, seine Augen strahlen eine unwiderstehliche Wissbegier aus. »Ich bin Dorian.« Er streckte den beiden eine Hand entgegen.

»Ich bin Ben.« Er ergriff Dorians Hand, stolz auf die Begrüßung von Mann zu Mann. »Das ist Chris.«

Mit einem verlegenen Lächeln ergriff auch Chris die ausgestreckte Hand. Dorian konnte sich nicht zurückhalten und fuhr dem Kleinen übers Haar.

Chris grinste verschmitzt. »Mom sagte, wir sollten Sie nicht stören.«

»Ich sage es euch, wenn ihr mich stört.«

Chris nahm ihn gleich beim Wort. Er kletterte aufs Bett und plapperte über alles Mögliche, während Dorian auspackte. Ben hielt sich dagegen zurück, beobachtete aber aufmerksam alles.

Sein Vertrauen ist nicht leicht zu gewinnen, dachte Dorian. Der Kleine dagegen war ein Prachtkerl, der einem auf Anhieb alles zu glauben schien.

Chris beobachtete, wie Dorian Zigaretten hervorholte. »Mom meint, das sei eine schlechte Angewohnheit.«

Dorian verstaute sie in der Kommodenschublade. »Mütter sind schrecklich klug.«

»Mögen Sie schlechte Angewohnheiten?«

»Ich …« Dorian zog es vor, die Frage unbeantwortet zu lassen. Er legte die Kamera auf die Kommode. Im Spiegel sah er, wie Ben interessiert den Kassettenrekorder befingerte. »Bist du daran interessiert?«

Ertappt zog Ben die Hand zurück. »Spione benutzen so etwas.«

»Habe ich auch gehört. Sind hier welche?«

Ben warf ihm einen ruhig abwägenden Blick zu, den Dorian nicht einmal bei einem doppelt so alten Jungen erwartet hätte. »Vielleicht.«

»Wir dachten einmal, dass Mr. Petrie, der uns mit den Pferden hilft, ein Spion sei.« Chris sah in den Koffer, ob es noch etwas Interessantes zu entdecken gab. »Aber er war keiner.«

»Ihr habt Pferde?«

»Einen ganzen Haufen.«

»Was für Pferde?«

Chris zuckte mit den Schultern. »Hauptsächlich große.«

»Du bist vielleicht dumm«, warf Ben ein. »Es sind Morgans. Eines Tages werde ich Thunder reiten, das ist der Hengst.« Die abwägende Zurückhaltung verschwand aus seinem Blick und wurde durch Begeisterung ersetzt. »Er ist der Beste überhaupt.«

Da liegt der Schlüssel, wenn man dem Jungen näherkommen will, dachte Dorian. »Ich hatte als Kind einen, der war vierundsechzig Zoll groß.«

»Vierundsechzig?« Ben riss die Augen auf, bevor er sich daran erinnerte, dass er nicht zu viel Begeisterung zeigen...