Handbuch Bildungsforschung

von: Rudolf Tippelt, Bernhard Schmidt

VS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV), 2009

ISBN: 9783531918310 , 1020 Seiten

2. Auflage

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 62,99 EUR

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Handbuch Bildungsforschung


 

Familie und Bildung (S. 339-340)

1 Zur Definition von Familie

Das zentrale Kennzeichen von Familie – so der relative Konsens in der sozialwissenschaftlichen Familienforschung – ist die Zusammengehörigkeit von zwei oder mehreren aufeinander bezogenen Generationen, die zueinander in einer Eltern-Kind-Beziehung stehen. Von der Kindposition aus gesehen handelt es sich um die Herkunftsfamilie, von der Elternposition aus um die Eigenfamilie. Als kleinste Größe umfasst eine Familie ein Kind und ein Elternteil, die inzwischen meist als Ein-Eltern- oder Ein-Elter-Familie bezeichnet wird, die ganz überwiegend von der Mutter gebildet wird. Setzt sich eine Familie aus einem Kind oder mehreren Kindern und einem Paar in der älteren Generation zusammen, dann spricht man von einer Kernfamilie. Die Kernfamilie ist die Familienform, die dem modernen oder bürgerlichen Familienmodell zugrunde liegt.

Durch die kulturelle Dominanz, die dieses Modell im 20. Jahrhundert erreicht hat, wird die Kernfamilie auch häu. g als Normalfamilie bezeichnet. Eine Familie, die in der Generationentiefe um eine oder mehrere Generationen vergrößert ist, wird als Mehrgenerationenfamilie, eine, die neben einem Generationszusammenhang noch weitere Personen (z.B. Geschwister der Eltern) einschließt, wird als erweiterte Familie bezeichnet (vgl. im Überblick Böhnisch/Lenz 1999). Das Spezi. kum einer Familie sind somit die besonderen Generationenbeziehungen . Die Familie wurde oft als „Gruppe besonderer Art" charakterisiert (vgl. z.B. Tyrell 1983).

Familien umfassen zwar in vielen Fällen drei und mehr Mitglieder, sie können aber auch – wie bei Ein-Elternfamilien – nur aus zwei Mitgliedern bestehen. Die Verwendung des Gruppenbegriffs im Zusammenhang mit Familien ist allem Anschein nach unau. ösbar eng verknüpft mit der Vorstellung der Kernfamilie. Deshalb sollte an die Stelle des Gruppenkonzeptes das Konzept der persönlichen Beziehung treten (vgl. Lenz 1998). Denn auch wenn die Familien Gruppen sein können, ist der Gruppencharakter kein allgemeines Kennzeichen der Familie. Vielmehr entsprechen Familien dem Strukturtypus der emotional strukturierten persönlichen Beziehung, wobei sich deren Besonderheit daraus ergibt, dass diese Beziehungen aus Personen gebildet werden, die unterschiedlichen, unmittelbar aufeinander bezogenen Abstammungsgenerationen angehören.

In den letzten Jahrzehnten haben sich über die traditionelle Kernfamilie hinaus unterschiedliche Familienformen gebildet, z.B. Mehr-Eltern-Familien, Patchwork-Familien, die aber in ihren Beziehungsstrukturen dem Kernmodell nahe sind (vgl. BMSFJS 2005, Peukert 2007). Die neuere empirische Familienforschung weist zudem darauf hin, dass es angesichts des gesellschaftlichen Strukturwandels mit der Folge der Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen längst nicht mehr gerechtfertigt ist, die Familie als ortsgebunden und im Kleinfamilienmodell als relativ sozial isoliert zu betrachten.

Vielmehr muss bei vielen Familien von einem multilokalen Netzwerk ausgegangen werden, wie dies die Studie zur Entwicklung der Familien- und Generationenbeziehungen des Deutschen Jugendinstituts zeigt (vgl. Bien 1994, Bertram 1995). Kennzeichen dieser multilokalen Familienform ist, dass die Mitglieder nur noch zu einem kleinen Teil ihres Lebens in einem Haushalt zusammen sind, danach und gleichzeitig aber in multiplen Kommunikationsbeziehungen miteinander stehen. Familie kann somit auch als Netzwerk gelebter multilokaler Beziehungen betrachtet werden (vgl. Bien 1994).

Diese Unterscheidung ist für die Thematik Familie und Bildung wichtig, da sie zwei Dimensionen des familialen Sozialisationsgeschehens herausarbeitet: Zum einen die innerfamiliale Sozialisation und Unterstützung als Regulativ des Bildungsgeschehens in Kindheit und Jugend, zum anderen die Unterstützungsleistungen aus dem multilokalen familialen Netzwerk (vgl. dazu Marbach 1994), welche Bildungsoptionen stärken, Bildungswege öffnen und Bildungskarrieren stützen können.